Katrín Ólína: Denktypen

Katrín Ólína ist schön. Auf jene von innen herrührende Art, die sich in der Gesamheit der fragmentieren Komplexität des Seins zeigt. Es ist die Schönheit jenseits der Oberfläche, jenseits von Gender und jenseits von Design (und dennoch sehr nah).

Primitiva © Katrín Ólína

Vielfalt im Selbst

Begleitet von den sphärischen Klängen des Ambient-Avantgarde-Komponisten William Basinski, nimmt die isländische Künstlerin das Publikum mit auf eine Reise durch den Kosmos des Inneren. Ihre neueste Arbeit „Primitiva“ gibt der inneren Vielfalt Form, verortet das Sublime in uns selbst und bleibt dabei geerdet im alltäglichen Leben:

„There is a godess in every man and a god in every woman.“

Es geht um nicht weniger als die existentielle Frage nach dem Sein, die Verbindung zum eigenen Selbst und zu den umgebenden Welten. Was klingt, findet in Bronze tatsächlich Gewicht, wirkt jedoch zugleich spielerisch und bleibt leicht durch Bewegung. 40 Talismane formen eine Schmuckserie, die ihre Reflexionen tragbar und ertragbar macht.

Diese „narrativen Objekte zur alltäglichen Transformation“ übersetzen menschliche Gefühle in vertraute Formen aus dem Vokabular der Natur, bleiben aber stets eine Ableitung, die Raum lässt für Interpretation. Sie erinnern und gedenken, erscheinen aber nie als exakte Nachahmung.

Digitale Archäologie

Dorthin führte sie ein Weg, der beides ist: intellektuell und pragmatisch. Die Grundlage ihrer Arbeit ergibt sich aus einer Auseinandersetzung mit Mythologie, Theorie, Philosophie, Kulturgeschichte sowie den Artefakten und Relikten, die die Menschheit der Welt im Laufe der Geschichte übriggelassen hat. Für die Umsetzung bedient sie sich neuester Technologien wie 3-D-Druckverfahren und digitalen Konstruktionsprogrammen.

SPONTANEITY – one of 40 pieces of the jewellery series „Primitiva“ © Katrín Ólína

Ihrem Werk „Primitiva“ liegt ein konzeptionelles System mit Relationen zur Philosophie der Antike zugrunde: mit einem Verständnis von Natur als „einem immer fortwährenden Prozess“ sowie der ästhetischen Theorie des Barock – einer Ära, die inspiriert war von der Idee der Bewegung, insbesondere der „Analysis of Beauty“ von Hogarth, der darin eine serpentinenartige Kurve als die „Linie der Schönheit“ definiert. Ihre eigene Form entwickelte Katrin mit Autodesk Maya, während einer mehrjährigen Zusammenarbeit mit dem ADD Lab der Universität Aalto und mit der Unterstützung des Helsinki International Artist Programme (HIAP). Ein Prozess, den sie am treffendsten beschrieben sieht mit „digitaler Archäologie.“

Universalsprache

Auf Basis einer einzigen Primärform formuliert sie eine Sprache aus Formen. Ein logisches System, eine Taxonomie, vergleichbar mit einer Schrift, wenn man Schrift als ein Medium versteht, um Bedeutung zu transportieren oder als eine Familie von Zeichen und Typen (Characters). Es ist eine Übersetzung menschlicher Gefühlszustände – katalogisiert in vier „Königreiche“ (SEEKERS; DOERS; CONNECTORS; VISIONARIES) –, die das Konzept der wechselseitigen Beziehungen und deren Assoziationen sichtbar werden lassen.

Primitiva © Katrín Ólína

Primitiva © Katrín Ólína

Auf der Suche nach Verbindung

Seit früher Kindheit entdeckt sie ihren inneren Kosmos, der sich in eine eigene Bildwelt als Ventil ihrer Kreativität entlädt und in Form von Charakteren, Dämonen und Maschinen Gestalt findet. Die Motivation ist ganz und gar nicht narzisstisch, sondern der Versuch sich zu verbinden. Ihre Arbeit sucht Antworten auf die Frage, wie wir in einer hochgradig technisch vernetzten und dennoch vereinzelten Welt eine Verbindung finden können. Sie löst es mit Schmuck, der in der Kulturgeschichte auf eine lange Tradition als Verbindungselement der abstrakten und physischen Welt zurückblickt und seit jeher ein Träger sozialer Bedeutung ist.


© Katrín Ólína bright reading horse © Katrín Ólína

Jenseits von Kategorien

Ehrlich gesagt ist es ein schmaler Grat mit diesen Themen – besonders als Frau und als solche leider immer noch in der Gefahr, nicht ernst genommen zu werden, wenn die Arbeit Berührungspunkte mit transzendenten Ideen sucht. Esoterisch – ein Begriff, der in der Szene von Kunst und Design häufig genutzt wird, um abzuwerten. Eine überholte und dennoch überdauernde Unterscheidung zwischen Hoch- und Massenkultur. Zwischen anerkannter Erkenntnis und naivem Denken.

Deshalb ist es mutig, emotional, reflektiert, selbstbewusst und ehrlich zu sein. Ihr Werk ist ohnehin schon viel weiter. Es berührt, weil man spürt, dass ihre Arbeit zugleich tiefgründig durchdacht und erfrischend unprätentiös ist. Die Zeichnungen (allesamt Vektor-Grafiken, hergestellt in Illustrator) lassen sich nicht nur in Galerien finden, sondern illustrieren Poster für Musikfestivals und Ausstellungen. Katrín gestaltet zudem Möbel, wie beispielsweise die Garderobe „tree“, die in der Designszene als Beispiel für zeitgenössisches, skandinavisches Möbeldesign bekannt ist; oder das Bücherregal „bright reading horse“, das – mit einem Augenzwinkern – die isländische Redewendung für jemanden, der gerne liest, verkörpert.


The a spontaneously bundled tribe on the TYPO stage around the talismans
© Norman Posselt / Monotype

Im Kontext von Designtalks, bei denen das Publikum nicht selten mit Buzzwords und inspirierenden Zitaten bombardiert wird und ständig dazu aufgerufen ist, positiv zu denken, Risiken einzugehen, anders zu sein, es selbst zu sein, dieses oder jenes zu tun …, zeigt Katríns Arbeit, im Kontrast dazu, eine solide und ehrliche Selbsterforschung und Entdeckung.

Das Schöne zu suchen ist bedeutsam. Es ist eine Positionierung in der Welt und eine Haltung ihr gegenüber. Es ist das, was gemeint werden sollte, wenn man von positivem Denken spricht. Wirklich eine Verbindung zu dieser Welt zu finden, das ist die wahre Herausforderung.

www.primitiva.fi/
katrin-olina.com/

Leonie Hesse und Christine Wenning

Katrin Olina

Katrín Ólína

Designer (Reykjavik)

Katrín Ólína Pétursdóttir (1967) is an Icelandic designer who works in a variety of media including illustration and product design. Possessed of a sensibility for the mysterious, Ólína’s work speaks in a language inspired by Jung’s ideas of the collective unconscious, philosophy, symbolism, mythology, natural history and geometry. Her work has materialised in the fields of product design, fashion, interiors, furniture, print and animation. She has created large immersive graphic installations at the National Gallery in Oslo and Reykjavik Art Museum and won numerous awards for her work, including Forum Aid, SEGD and the DV Culture Award in Iceland. Her working methods combine digital technologies from 2D flat work to 3D printing in an effort to give form and material to abstract ideas and the inner cosmos. Her explorations of the space between the psyche and the designed object or space manifests in what could be called ‘illuminated darkness’.