Ian Warner: Worte bauen. Fiktionen in Architektur und Stadtplanung

Hinter die Fassade blicken, sie als Kulisse der Oberflächlichkeit entlarven – eine Aufgabe, die sich der Brite Ian Warner in den letzten 20 Jahren in Berlin zu eigen gemacht hat. Gemeinsam mit ihm gehen wir auf Entdeckungsreise durch eine Stadt, die an architektonischen Skurrilitäten einiges zu bieten hat.

Typo Berlin 2016 "Beyond Design"© Sebastian Weiß (Monotype)

Wenn man sich voller Erwartung auf einen Vortrag in den Sessel fallen lässt und vorne jemand zu sprechen beginnt, so gibt es da einen Satz, der in fast allen Fällen verheißt, dass es nicht langweilig wird. Heute fiel er wieder: „Today, I won’t talk about my design projects.“ Herrlich. Das letzte Mal, dass ich danach wie erleuchtet aus dem Saal ging, war 2013, nach einem Vortrag von Paul Barnes.

Heute ist es Ian Warner, der diesen vielversprechenden Satz spricht und das Bewusstsein für Neues weitet. Sicher, tiefere Einblicke in die Prozesse seiner Markenidentitäten und Wegleitsysteme wären interessant gewesen. Doch Warner nimmt das Thema der diesjährigen TYPO wortwörtlich: Beyond Design.

„Beyond“ heißt „jenseits“. So weit will er dann aber doch nicht gehen. Warner widmet sich der Architektur. 1995 kam er während seines Designstudiums in das noch frisch vereinte Berlin und wurde mit den Brachen in der urbanen Landschaft konfrontiert – unbebaute, traurige Löcher inmitten einer Stadt, die wirkte, als hätte man sie aus ihrem sozialistischen Dornröschenschlaf in die kapitalistische Wirklichkeit gezerrt.

„I re-appointed my feelings to create something positive.“

Fasziniert von dieser rohen Poesie zog Warner ein Jahr später in diese sich stetig wandelnde Stadt. Er begann, die Veränderungen um ihn herum zu beobachten und zu dokumentieren. Bis heute stößt er immer wieder auf Bausünden, die er aufgrund ihrer Unvollkommenheit mal als „render boxes“, mal simpel als „Scheunen“ bezeichnet.
Aus seinem „disappointment“, seiner Enttäuschung über so wenig Sinn für Qualität, wurde ein „appointment“ – er erteilte sich selbst den Auftrag, dem Negativen etwas Positives abzugewinnen.

Das war der Beginn des „Slab Mag“. „Slab“ bedeutet im Englischen sinngemäß „massiver Block einer beliebigen Substanz.“ Für Warner ist es aber vor allem eine gewitzte Abkürzung dessen, wofür der Blog eigentlich steht: „Schlechte Architektur Berlin.“

Ian Warner

Ian Warner

Communication Designer / Writer (Berlin)

Ian Warner is co-owner of the Berlin design consultancy State, and founder of Slab-Mag, “the heuristic journal for gonzo blurbanism”. State’s recent commissions include visual identities for the Rundfunkchor Berlin and Komische Oper Berlin, wayfinding systems for the DomQuartier Salzburg and the 2015 Deutscher Architektentag, and websites for Greenpeace Magazine, Hadi Teherani architects and the author Michael Schindhelm. In 2006 Ian founded Slab-Mag, an online journal exploring architecture and urbanity from a defiantly subjective perspective. Humorous conjecture is given equal footing with detailed research, enabling the site’s five permanent writers to weaved nuanced and revealing fictions into a sprawling analysis of the built environment. He has taught communication design at the University of Arts (UdK) and the Design Academy in Berlin, the Hamburg University of Applied Sciences, has lectured at the Technical University (TU) Berlin and for students of architecture and urban studies at the AdbK Nürnberg. Since 2015 he is a co-organizer of the KAM architectural workshops held annually in Chania, Crete.

Seine Beobachtungen sind skurril, denn sie ziehen die Dinge aus dem Zusammenhang und offenbaren dadurch erst die Absurdität ihrer Existenz. Egal, ob es sich um ein Pop-Up-Barbie-Museum handelt oder Vorabfassaden des ohnehin absurden Bauprojekts „Berliner Schloss“ – Warner sieht in erster Linie nicht das Hässliche darin, er nennt seine Entdeckungen „magical“. Sie enthalten einen entlarvenden Subtext, den er erzählen und öffentlich machen möchte.

„Reality is weird anyway, it can handle a bit of fiction.“

„All das sind Objekte, die darum betteln, dass man sie erklärt“, konstatiert er. Es sind vergängliche Phänomene, „phantom narratives“: Man muss sie fassen, sonst entgleiten sie einem schnell wieder.

Protokolle der Menschheit

An Fallbeispielen mangelt es ihm nicht. Das durch Beton, Glas und Stahl kontinuierlich mutierende Berlin ist die ideale Quelle. Einige Fälle seziert er mithilfe klarer Analytik, lässt aber offen, ob sich ein tieferer Sinn hinter den zahllosen Verunzierungen verbirgt oder diese bloß Ironie des Schicksals sind:

© Sebastian Weiß (Monotype)

Eine Supermarkteinfahrt, die eigentlich zur Anlieferung der Güter („goods“) gedacht ist, aber an Pfeilern und Decken erhebliche Schäden aufweist. Ein Park, der vom Betreiber des neuen Flughafens Berlin Brandenburg gebaut wird, um zu erwartende Umweltschäden wieder (zumindest annähernd) auszugleichen: Wortverschwurbelungen wie „Naturerfahrung“, Schaffung von „Möglichkeitsräumen“ und „Halboffenlandschaften“ eingeschlossen. Das Holocaust-Mahnmal als Ort der Selbstinszenierung der Generation „Selfie-Stick“ und die Frage, ob diese Geschichte des Smartphones als Protokoll der Menschheit zu sehen ist.
Zuletzt: Die „Mall of Berlin“, an deren Stelle früher das Wertheim-Warenhaus stand und die jetzt mit gefälschten Materialoberflächen und klischeehaften, in den Fußboden eingelassenen Zitaten künstlich eine historische Verwandtschaft zu dem alten Haus herzustellen versucht. Die Tatsache, dass einige der ersten Zombie-Filme in Shopping Malls spielten, macht diese Totenerweckung zusätzlich abstrus.

„Je näher man der Realität kommt, umso merkwürdiger wird sie“, stellt Warner abschließend fest. Wohl auch, weil mit abnehmendem Blick für das Ganze der Fokus darauf verloren geht, wie wir Architektur betrachten und wie wir sie behandeln – statt in ihr mehr zu sehen als reine Oberfläche.

Written by Felix v. Pless