Ruedi Baur: Sustain – oder halte durch!

Ruedi Baur will es ernsthaft angehen, denn er sieht den zentralen Widerspruch der Gesellschaft und unserer Disziplin im diesjährigen Thema der TYPO Berlin, das erste Stichwort: Er ist der Berliner Polizei sehr dankbar, ein weiteres Mal in Tegel landen zu dürfen. Er wolle es in Zukunft vermeiden, mit dem Flugzeug nach Berlin zu reisen. Den Bau des neuen Flughafens bezeichnet er als zu banal und zu perfekt, durch die Entfernung vom Stadtzentrum finde eine Entpersonalisierung satt, seine persönliche Lust am Reisen werde genommen. Sein Wunsch: “Sustain Tegel!”


© Gerhard Kassner
Wir stehen mit unserer kapitalistischen Gesellschaft und einer damit verbundenen Moderne im absoluten Widerspruch zur Nachhaltigkeit. Altes wird durch Neues ersetzt und das Neue ist immer besser. Ruedi Baur erzählt von einer Ausstellung mit dem Titel “Design de soustraction”, die 1992 in Lyon stattfand . Etwas wegnehmen, sich reduzieren, und damit gestalten. Er zieht Parallelen vom universellen Denken der griechischen Philosophie zum weltweit herrschenden Kapitalismus. “Es genügt nicht, die Kühe zu gießen, um die Erde zum drehen zu bringen”. Womit er meint, dass es nichts bringt, ein gutes Gewissen im Alltag zu leben, aber trotzdem die “Weltschweinerei” zu unterstützen.

“Sustain: Die Fähigkeit eines Musikinstruments den Ton zu halten, ohne die Note zu wiederholen”. Auch ein typografischer oder gestalterischer Ton versucht nach Baur einen gewissen Zauber zu entwickeln. Im französischen durabilité – Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit. Aber wie lang muss ein Ton agieren? Was ist typografische Dauerhaftigkeit? Nach Ruedi Baur die richtige Dauer gegenüber der Zeit der Benutzung und einer angemessenen Haltung dem Objekt entsprechend. Er beklagt die Kurzlebigkeit vieler Projekte und einer Gestaltung, die im totalen Widerspruch dazu stehe. Was nutzt denn die Ästhetik, wenn sie nicht ihrem Nutzen entsprechend gestaltet wird? Er sieht die Zeitlichkeit als größte Baustelle unserer Zukunft. Nachhaltigkeit heißt in nicht nur bremsen und verbieten, sondern am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt zu handeln. Informationsdesign sieht er als eine der wichtigsten Disziplinen in der Gestaltung unserer Umwelt und Gesellschaft an.


In Berlin eröffnete er ein Studio, um auf Basis von drei Jahren Forschungsarbeit einen Atlas der Nachhaltigkeit zu erstellen. Leider hatte die Politik damals kein Interesse an seiner Arbeit. So versuchte er es mit einem Projekt in Vorarlberg. Es wurden Tagesabläufe von Bürgern analysiert und Punkte vergeben. Ein guter Tag hatte 100 Punkte, der Durchschnittsbürger erhielt im Ergebnis 210 bis 320 Punkte. Das Resultat zeigte, dass es nicht an den Handlungen des Einzelnen lag, dass die Punkte unzufriedenstellend ausfielen, sondern die Rahmenbedingungen nicht stimmten. Effektive Baustellen werden seiner Meinung nach gar nicht beleuchtet. Der Bürger sieht sie gar nicht, sonst hätte er die Möglichkeit diese zu instrumentalisieren und Aktionen zu initiieren.

Wir wissen, dass wir einfacher leben müssten, aber der Konsum führt uns dazu anders zu handeln. “Reicht es uns, wenn es für uns reicht?” Wir kennen das Ziel nicht, wissen nur, dass wir es uns anders wünschen. Baur fragt sich, woher wir dann wissen sollen, auf welches Ziel wir uns fokussieren können?

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Ruedi Baur

Ruedi Baur was born in Paris more than fifty years ago. He lives and works in Paris and Zurich and leads the studios Integral Ruedi Baur in Paris and Zurich since 1989 and the Institute for Research in Critical Design »Civic City«. Furthermore he researches and teaches at the »Head« in Geneva and at the »EnsAD« Paris. Baur has various publications by Lars Müller Publishers.
Werden in der Gesellschaft einfach nur Dogmen gesetzt, Moralvorstellungen vorgeschickt oder werden wir mit der Zeit alle nur frustriert? Doch nun wird alles gut: Menschlichkeit, Solidarität, Freude, Zukunft und Kreativität! Das ist, was wir brauchen! Nur mit Euphorie kann man eine Gesellschaft aufbauen. Dabei geht es nicht darum, perfekt zu sein: Individualität und erarbeitete Komplexität sind wichtig, auch im nicht Perfekten.

Von den Schafen der Gesellschaft zur individuellen Komplexität – Baur beendet seinen Vortrag mit den Worten: “Ich bin für eine barocke Reduktion!”

Text — Christine Lange